Ich dachte, ich sähe eine Hand

von John Eidswick

November 2003

  

            Die weißen Finger bewegten sich über das Papier. Geschickt falteten sie kleine Kniffe. Nachdem Greeley das Flugzeug fertig gestellt hatte, ließ er seine Handfläche über die obere Kante gleiten, als würde er die Schärfe einer Klinge prüfen. Er nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und balancierte es in der Luft. Er schloss ein Auge und legte seine Wange an das Ende. Der Schwanz des Flugzeugs verbog sich leicht durch den Druck seines Gesichts.

Er ließ es fliegen. Das Flugzeug segelte sanft. Es brauchte eine geraume Weile, bis es durch den Raum geflogen war. Mit den sorgfältig gefalteten kleinen Winkeln und seinem sauberen weißen Körper gehörte es nicht in diesen schmutzigen Raum. Ein gewichtloses Gespenst, das durch ein Tal von Spiderman-Comics und Schmutz starrenden Turnschuhen schlafwandelte. Farrah Fawcett Majors und KISS-Poster grinsten und streckten ihre Zungen vor der schmutzigen orangen Wand heraus. Das Flugzeug wäre wohl auf ewig weiter gesegelt, aber es stieß gegen die Seitenwand seines gelben Papierkorbs, hielt mitten in der Luft inne wie ein erschrockener Engel und glitt auf den Teppich.

Greeley flog dann selbst durch das Schlafzimmer, stieß wild mit den Füßen gegen den Papierkorb, verbeulte ihn. Er nahm ihn in seine Hände, schleuderte ihn gegen die Wand. Er zog eine Schere unter seinem Bett hervor, stemmte ein Loch in die Plastikwand und zeriss ihn dann mit den Fingern in kleine Fetzen. Ich saß auf einem Stuhl im Schatten und beobachtete ihn. Damals waren wir zwölf Jahre alt.

 ****

Als ich den Anruf wegen Greeley erhielt, war ich im Studentenheim und lernte. Ich hatte am nächsten Tag drei Zwischenprüfungen. Obwohl ich sie wahrscheinlich mit Sehr gut bestehen würde, wollte ich den Abend damit verbringen, die letzten Feinheiten zu erarbeiten. Jemand klopfte an meine Tür. Eine Stimme rief: „Doug? Ein Anruf für dich.“

Es war Markus von gegenüber, der nervös vor meiner Tür stand. Er deutete auf den Münzfernsprecher in der Halle. Sein Haar war frisch geschnitten und in der Mitte gescheitelt. Ein paar Bleistifte ragten aus seiner Hemdtasche. „Ein Typ ist am Apparat, er ruft aus dem Mantis an.“ An der Art, wie er das sagte, wusste ich bereits, worum es ging. „Wieder Greeley.“ Er machte eine Handbewegung in Richtung der Telefone in der Nähe der Badezimmer, als wolle er eine Fliege verscheuchen.

Greeley hatte schon einige Studenten in unserem Heim gegen sich aufgebracht. Meistens ging es dabei um Geld, einmal um ein Mädchen. Ich nahm den Hörer, der neben einem der Telefone baumelte. Ein Mann nuschelte, dass Greenley mich bat, jetzt zu ihm zu kommen. „Sie sollten bald herkommen, Chef.“ Der Mann hatte aufgelegt, bevor ich etwas fragen konnte.

            Ich verfluchte Greeleys Name nicht, bevor ich mich hinter das Lenkrad meines Wagens geklemmt, ein Led-Zeppelin-Band eingelegt und den Wagen angelassen hatte. Mein Vater hatte mir Trans Am zum Geburtstag geschenkt, wegen meiner guten Noten. Greeley. Warum ließ ich ihn nicht einfach fallen? Er hatte komplett aufgehört, zum Unterricht zu kommen. Er war knapp davor, von der Schule zu fliegen. Und wenn das passierte, wohin würde er gehen? Seine Eltern sprachen nicht mit ihm. Mir war es beinahe schon vollkommen egal. Ich gab Gas und drehte die Musik lauter.

            In den Rauchschwaden, aus denen die Luft im Green Mantis bestand, ließ Greeley am Ecktisch die Sau raus. Vor ihm stapelten sich leere Bierflaschen. Er schwenkte beide Arme laut lachend über dem Kopf. Er ließ den Kopf sinken, als würde er gleich einschlafen, aber seine Hände bewegten sich weiter. Greeleys Hände hatten ein Eigenleben. Sie wirkten wie verrückt gewordene Vögel, die über dem zerzausten Haar auf seinem Kopf flatterten, herunter sausten und die Flaschen bombardierten, am Tisch tanzten.

Ich zwang mich zu einem Grinsen und setzte mich neben ihn. Ich boxte ihn in den Arm. „Was ist los, Wings?“ So hatte ich ihn genannt, als wir Kinder waren.

            Er sah mich nicht an, aber seine Hände hielten in ihrem Flug inne. Sie legten eine Pause ein, und seine Fingerspitzen streckten sich mir entgegen. Dann dann flogen sie sich im Sturzflug dem Tisch entgegen und schlugen dumpf auf.

            Ich atmete tief ein. „Also, Greeley.“ Ich schaute auf meine Uhr. „Was geht hier vor?“

            Er murmelte irgend etwas, dann sprang er von seinem Stuhl auf. Greeleys Haar war goldbraun. An den Spitzen war es teilweise verfilzt. Er brauchte nur ein paar Sekunden, um zur Tür zu kommen. Bevor ich aufstehen konnte, krachte die grüne Holztür hinter ihm zu. Ich war halb durch den Raum, als mir der Barkeeper zuknurrte, was mit der Rechnung sei. Ich zahlte, ließ die Geldscheine in meiner Eile einfach auf den Boden flattern, um Greeley noch einzuholen, bevor er sich dort draußen umbrachte.

Ich fand ihn auf dem Parkplatz. Er beugte sich vor, stand neben einem großen weißen Müllcontainer. Hinter ihm war eine schmale Gasse, daneben eine Mauer. Häuser ragten an der anderen Seite empor. Die nackten Zweige eines Mesquite-Baums ragten über den Rand. Die Lichter des Parkplatzes ließen sie zu Knochenfingern werden, nach dem Himmel krallten. Ich sog die Luft ein, als ich mich ihm näherte. „Hey, Greeley.“ Er hockte sich neben den Müllcontainer und zog mit seinem Finger lange, langsame Linien über den Asphalt. Ich beugte mich zu ihm.

Er versetzte mir einen Schlag. Als seine Knöchel mein Kinn trafen, wurde alles auf den Kopf gestellt. Eine unsichtbare Hand packte den Boden und zog ihn unter mir weg wie einen Teppich. Mein Kopf klapperte in meinem Ohr, als ich auf dem Asphalt aufschlug. Heiße Flüssigkeit brandete in meiner Wange. Quer durch die Dunkelheit, die mich von dem umgedrehten Müllcontainer - oder lag er auf der Seite? - trennte, formte sich eine verschmolzene Linie vor meinen Augen. Es war eines dieser verzerrten Lichtmuster, die in der Retina fortbestehen, nachdem eine Glühbirne explodiert, der glühende Schweif eines Kometen, der Greeley in zwei Hälften schnitt. Er drückte sich gegen den Container und heulte. „Es tut mir Leid, es tut mir so Leid.“

Er sprang auf. Seine Finger ballten sich zu Fäusten, er attackierte den Container mit Schlägen, die metallisch in der Nachtluft klirrten. Seine Schläge waren so rasend, dass ich dachte, seine Hände würden glatt durch das Metall schlagen und auf der anderen Seite wieder heraus fliegen. Der große Container scharrte über den Asphalt. Als Greeley neben mir zusammenbrach, hatte sich der Container einen Zoll weit bewegt.

Ich humpelte über den Parkplatz und rieb mir die Wange. Der Schmerz hatte fast vollständig nachgelassen, alles war taub. Bevor ich die schwere Tür meines Autos öffnete, konnte ich nicht anders, als noch einen Blick zurückzuwerfen. Er hatte seine Position nicht verändert. Seine Tränen kamen stoßweise. Er grunzte Worte, die ich nicht verstehen konnte. Sein Gesicht war der Erde zugewandt. Seine Hände waren über dem Kopf erhoben, die Finger streckten sich dem Himmel entgegen.

 ****

Die Straßen waren leer an einem Sonntag Morgen. Alle Häuser - identische, nüchterne grüne Wände, pinkfarbene Keramikschindeln, die beiden Stockwerke durch eine einzelne Planke aus feinem, leichten Zedernholz getrennt, die aus der Ferne wie eine Schwertklinge wirkte, die das Haus sauber in zwei Hälften zerschnitt - waren still. Ich stand auf der Veranda und bückte mich nach der Zeitung. Die Luft war warm für Januar.

Ein paar Sperlinge zwitscherten im Zitronenbaum auf meinem Rasen. Als Barbara und ich nach Simi Valley zogen und vor einem Jahr dieses Grundstück kauften, hatte es mir dieser Zitronenbaum am meisten angetan. Jedes Haus hatte zwei Zitrusbäume, die paarweise fein säuberlich aufgereiht nahe der Straße standen. Ein Zitronenbaum und ein Orangenbaum. Ich zählte sie ab, während ich die Straße entlang blickte. Orange, Zitrone, Orange, Zitrone.

Ein Hund tauchte auf. Er war knochenmager, hatte fahlgelbes Fell und eine Zunge, die er dumm heraushängen ließ. Da war ein braunes Ei nahe der Einfassung. Der Hund ging direkt darauf los, nahm es in sein Maul und begann, davonzutrotten. Ein großes Kreischen hob aus dem Orangenbaum an. Vögel brachen aus dem Baum und bildeten eine verrückte, tobende Wolke über dem Kopf des Hundes. Der Hund blickte mit großen Augen nach oben, sein Maul umklammerte nach wie vor seinen Preis. Ein paar Vögel stießen herab, um nach ihm zu picken. Der Hund eilte weg und zog die Wolke mit sich. Die Schlacht verschwand zwischen zwei Häusern.

Als ich zurück sah in meinen Vorgarten, stand Greeley dort. Seine Haare waren kurz geschoren und er trug ein ärmelloses T-Shirt, das die Strandversion eines feurigen Sonnenuntergang zeigte. Er lächelte. „Hey, Mutt.“

Seit jener Nacht auf dem Parkplatz hatte ich ihn weder gesehen noch ein einziges Wort mit ihm gesprochen. Lang, nachdem er vom Campus verschwunden war, erfuhr ich vom Hörensagen, er hätte sich von der Air Force anwerben lassen.

            Wie er so da stand, mich bei diesem alten Namen nannte, seine Bizeps aufgeblasen wie Superman, ein breites Grinsen im Gesicht und den Kopf nahezu kahl geschoren, war das Sonderbarste, was ich seit Jahren gesehen hatte. In dem Moment, als meine Frau durch die Tür kam, um herauszufinden, was los war, krümmte ich mich vor Lachen und griff mit der Hand nach dem Briefkasten, um mich festzuhalten. Mein Griff war so fest, dass sich der Briefkasten verbeulte.

Barbara brachte ihm Kaffee und Toast. Wir saßen am Küchentisch, wie eine kleine Familie. Greeley teilte uns die Neuigkeiten mit. „Ich werde heiraten.“

Barbara und ich brachen in Freudenrufe aus. „Herzlichen Glückwunsch!“ Wir sagten es unisono. So waren wir damals, ein glückliches Paar aus einer Sitcom.

„Erzähl uns von ihr.“ Meine Frau lehnte sich in ihrem Stuhl vor, mit begeistertem Gesicht bemühte sie sich, ihre Hände zurückzuhalten, indem sie die Handflächen aneinander drückte. Dieser Anblick erinnerte mich an die Anhängerin einer verrückten Sekte, deren Bild ich einst in einem Magazin gesehen hatte, ihre Hände wie zwei zitternde weiße Flügel, das Gesicht inmitten eines extatischen Gebets.

Er hatte seine Verlobte getroffen, bevor er in die Air Force eintrat. Sie war hübsch, dünn und blond, erzählte er uns, „wie ein Kätzchen.“ Er hatte keine Bilder.

Sie schrieben sich jeden Tag. Jetzt, nachdem sie ein Jahr getrennt waren, während er seinen Dienst ableistete, hielten sie es nicht mehr aus. „Sobald ich mich oben eingelebt habe, werde ich sie in Nebraska treffen.“ Er lehnte sich in seinem Stuhl zurück und verschränkte die Arme vor seiner Brust.

„Du musst noch ein paar Monate abdienen, nicht wahr?“ Als Barbara diese Frage stellte, umgab sie immer noch dieses enthusiastische Licht.

            Eine Wolke schob sich vor Greeleys Gesicht. Er studierte eingehend die hölzerne Tischfläche. „Doug. Ich muss dir etwas sagen,“ sagte er, nachdem er wieder aufgeblickt hatte. Er spreizte seine Finger und griff nach seiner Kaffeeschale. „Ich bin desertiert.“

            „Desertiert?“ Ich sprang von meinem Sitz auf und sah aus dem Fenster. Ich dachte, ich würde Polizeiautos sehen, die mit quietschenden Reifen vor meiner Veranda stehen blieben. Ich sah zu meiner Frau. Sie starrte meinen ältesten Freund an, ihr Mund stand so weit offen, dass ich ihre Zunge sehen konnte.

 ****

Im Bett stritten wir bei abgeschaltetem Licht. Greeley schlief unten auf dem Sofa. Sein Schnarchen war durch die Tür zu hören. Ich flüsterte: „Er braucht nur einen Platz, wo er eine Zeit lang bleiben kann. Jeder braucht manchmal Hilfe dieser Art.“

Barbara fiel es schwerer zu flüstern. „Ich noch nie.“ Ihre Hände zuckten unter der Decke.

Ich drehte mich zur Seite. Der Mond bewegte Finger aus kühlem orangenen Licht durch die Jalousien am Fenster. Ich war immer noch etwas betrunken. Je länger ich starrte, umso kräftiger wurde das Orange. Die Lamellen wurden Balken aus purem Weiß, die uns vor dem Feuer schützten, das draußen wütete. Ich blinzelte. „Warum erlaubst du ihm immer wieder, dass er zurück kommt, Doug?“ Barbara klang beinahe sanft.

Ich seufzte. „Er hat mir einmal das Leben gerettet, weißt du.“ Meine Frau richtete sich auf den Ellbogen auf. „Wirklich?“

„Ja, in gewisser Weise. Wir waren noch Kinder. Da war ein großer Sturm, und ich fiel in einen Graben. Ich wäre beinahe ertrunken, aber Greeley kam angelaufen, streckte seine Hand ins Wasser und zog mich heraus. Ich war so verängstigt, ich sah nach oben, und dann war da diese große Hand, die kam, um mich zu retten.“

„Wow.“ Barbara lehnte sich enger an mich. „Wie alt wart ihr damals?“

„Ungefähr fünf Jahre.“

„Er hat dich aus einem Graben gezogen? Und er war erst fünf Jahre alt?“

„Er war ein großes Kind. Er war immer größer als ich.“

Sie legte sich wieder hin. Dann setzte sie sich wieder auf und flüsterte: „Dennoch, Doug, er nutzt dich nur aus.“ Sie drückte ihre Lippen neben mein Ohr und zischte. „Und die Polizei sucht ihn. Ich möchte, dass er geht.“

 ****

Warum erzählte ich ihr diese Geschichte? Greeley hatte mir nie das Leben gerettet. Er rettete zwar einmal meinen Hund aus einem überfluteten Entwässerungsgraben, aber das war keine große Sache. Ich hatte damals einen Golden Retriever, der Max hieß. Ein großer Augustmonsun ging über Phoenix nieder. In dem Graben neben unserem Haus wütete das Wasser. Max liebte es, durch diesen Graben zu rennen. Ich denke, er war so daran gewöhnt, dass er ausgetrocknet war, dass er das Wasser nicht bemerkte, und dann war er plötzlich vom Wasser eingeschlossen. Er paddelte wie wild, hielt seine Nase knapp über Wasser, seine Augen waren groß und entschlossen. Ich stand nur da, knapp am Ufer des Grabens, zu Tode erschrocken, und blickte hinein, zitternd, beide Arme um mich geschlungen, im kalten Regen, und die Donnerschläge krachten ringsumher. Greeley sah mich und kam von seinem Haus auf der anderen Straßenseite hergerannt. Er kniete sich hin und versuchte, meinen Hund zu erreichen, aber sein Arm war nicht lang genug. Er sprang auf einen Baum, der am Ufer stand, kletterte auf einen überhängenden Ast, streckte seine Hand zur Wasserfläche hinunter und packte meinen Hund am Halsband. Er hob Maxie hoch in die Luft und warf ihn mir zu.

            Nach dem Abendessen gingen Greeley und ich aus. Wir gingen in den Green Arrow. Greeleys Kopf hing nach vor, der braunen Fläche der Bar zugewandt. In dem großen Spiegel uns gegenüber wirkte sein Gesicht furchtbar alt. Er hatte so viel durchgemacht. Wie sie ihn behandelt hatten, die brutalen Männer, die jeden Tag lernten, wie man tötet, auf endlosen Märschen, mit hallenden Stiefeln. Es war dumm von ihm, der Armee beizutreten. Er war nicht so groß. Sie hatten ihm einige Male den Arsch versohlt.

Jetzt wollte er nur mehr einen Neustart. Seine Augen begannen zu glänzen, und er hob den Kopf. Er sprach zu mir durch den Spiegel, lächelnd in seinen Traum versunken. Er presste die Hände zusammen. Seine Braut und er würden ein ruhiges Leben in Omaha führen. Sie wollten ein Tiergeschäft von einem Freund dort kaufen. Er brauchte Geld.   

Ich entschied mich, ihm eine große Summe zu leihen. Ich sagte Barbara nichts davon. In diesem Schlafzimmer voll kaltem orangefarbenen Licht, das von Schatten durchwoben war, kreuzten wir geflüsterte Klingen. Wie jedes Mal, wenn wir uns stritten, gab es keinen Sieger. Ich hörte auf Barbaras Atemzüge, die langsam tiefer wurden. Ich könnte morgen Geld von meinem Konto abheben. Sie überprüfte meine Auszüge nur selten. Wenn ich das Defizit dann schrittweise mit winzigen, fiktiven Ausgaben abbauen würde, müsste ich ihr nie etwas davon erzählen. Ich schlief schließlich ein, zum Klang seines Schnarchens.

Am nächsten Tag, als Greeley sich für seine Abreise fertig machte und Barbara gerade im Nebenzimmer war, dankte er mir für das Darlehen. Er versprach mir, spätestens in einer Woche anzurufen, und lud mich zu seiner Hochzeit ein.

Ich sprach über zehn Jahre lang nicht mit ihm.

 ****

Meine Frau reichte die Scheidung am elften Geburtstag unserer Tochter ein. Ich kannte sie nicht mehr. Ich hatte meine tiefsten Geheimnisse mit dieser Frau geteilt und mit ihr ein Kind gezeugt. Vor dem Scheidungsrichter war es, als würde mich ein Fremder in einer Seitengasse überfallen.

Barbara und Fawn zogen in ein neues Haus in Santa Barbara, das gerade weit genug weg für uns beide war. Was einst ein großes Haus für Drei war, war nun Riesenhaus für Einen. Der erste und zweite Stock waren im Zentrum miteinander verbunden, und die geschwungene Decke schwebte über mir wie ein offener Mund über dem Wohnzimmer, zwei Stockwerke über meinem Kopf. Von dem langen weißen Sofa konnte ich in den leeren Raum hinauf blicken, der von gerippten Holzgeländern umgeben war. Riesige rechteckige Fenster füllten die Höhle bei Tag mit einem warmen Schein. Wenn ich lange genug dort hinauf sah, fühlte ich mich schwindlig. Ich dachte, die ganze Struktur könnte auf mich herunter fallen.

In meiner Einsamkeit entwickelte ich die Gewohnheit, in den Spiegel zu starren, bevor ich zur Arbeit ging. Eine kahle Stelle weitete sich auf meinem Schädel aus, wie das blinzelnde Auge des Todes. Ich bewegte mich mechanisch durch meine Pflichten bei der Arbeit. Ich war nie produktiver. Ich hielt den monatlichen Verkaufsrekord. Mein Manager verkündete das allen bei einer Personalbesprechung, und alle applaudierten. Ich bekam eine Gehaltserhöhung. Jede Nacht nach der Arbeit trottete ich geradewegs heim in das leere Haus.

Ein Brief kam. Der Absender lautete „Dr. Win und Mary Greeley“. Greeleys Eltern.

Von der blumigen Handschrift, die, wie ich schloss, Mrs. Greeley gehörte, erfuhr ich, dass Greeley religiös war, „verrückt“ religiös, wie sie es beschrieb. „Er hat unser Herz gebrochen,“ teilte mir die Handschrift mit. Greeley hatte sich einer Gruppe angeschlossen, die sich Wächter des Weißen Lichts nannte. Ich war nicht überrascht. Ich überlegte, ob ich den Brief beantworten sollte, legte ihn auf den Tisch und vergaß ihn.

Eines Abends saß ich mit meinem dritten Bier vor den Fernsehnachrichten. Ein Mann der glaubte, er sei ein Superheld, und selbstgebaute Flügel trug, war von einem Gebäude in der Innenstadt gesprungen. Sein Körper wurde vermisst.

Das Telefon läutete. Der Anrufbeantworter schaltete sich ein. Nach dem Biep meldete sich eine nach Luft ringende Stimme. „Doug? Hier ist Win Greeley, Adams Vater. Hör mal, hast du - „ und ich nahm den Hörer ab.

Während unseres Gesprächs brauchte Mr. Greeley viele Pausen, um Luft zu holen.

Er war trauriger als jeder andere Mensch, den ich je gekannt hatte. Als wir Kinder waren, sprachen die Menschen viel über den Tabak-Bericht des Gesundheitsministers. Mr. Greeley, ein freundlicher Arzt, zu dessen Patienten viele Familien aus unserem Wohnblock zählten, war auch schwerer Raucher, zwei Päckchen pro Tag. Seine Antwort auf den Bericht des Ministeriums brachte er mit ruhiger Stimme und viel Autorität vor. „Jetzt sagen sie, das Rauchen tötet.“ Er nahm einen Zug von seiner Pall Mall, atmete aus und setzte fort. Die Seiten seiner Finger waren Gelb von Nikotin. „Vor ein paar Jahren hieß es, Heidelbeeren verursachen Krebs. Damals glaubte das auch jeder.“

„Du weißt, dass ich sterbe.“ Mr. Greeley hustete schrecklich und spuckte aus. Seine Lungen rasselten in meinem Ohr. „Er ist mein Sohn, und er will kein einziges Wort mit mir sprechen. Er will nicht zu mir kommen.“ Er hatte wieder einen Hustenanfall. Als er wieder da war, sprach er so leise, dass ich ihn kaum hören konnte. „Bitte,“ flüsterte er, „hilf mir, meinen Sohn zu finden.“

Es dauerte lang, bis ich etwas sagen konnte. „Mr. Greeley, ich denke nicht, dass ich etwas tun kann. Es tut mir wirklich Leid, aber ich habe jahrelang nicht mir Ihrem Sohn gesprochen. Ich weiß nicht, was - „ und jetzt war seine Frau am Apparat, weinend. „Douglas, erinnerst du dich an mich? Ich bin es, Adams Mutter, erinnerst du dich? Du bist immer in mein Haus gekommen, um Kekse zu essen.“ Ihre Stimme war von Verzweiflung und Alter gebrochen, aber ich erkannte sie noch. Ich zog meine Hand vom Hörer und hielt ihn an mein anderes Ohr. „Du hattest einen kleinen Hund, den hast du immer mitgebracht, und ich gab ihm kleine Snacks.“ Mr. Greeley hustete im Hintergrund. „Erinnerst du dich an mich?“

Ich sagte Greeleys Eltern, ich würde versuchen, ihnen zu helfen. Nach dem Auflegen zertrümmerte ich das Telefon.

Um Greeley zu finden brauchte es nur ein paar leichte Bewegungen meiner Finger auf der Tastatur. Die Webseite der Wächter des Weißen Lichts war vollgestopft mit langatmigen Texten. Auf dem Anfangsbildschirm griff vor einem friedlichen orangefarbenen Hintergrund eine gütige Hand nach einem magischen Stern. Die Worte verkündeten in einer Sprache schwer von obskurer religiöser Terminologie die glorreichen Aussichten des Lesers, durch das Praktizieren bestimmter Arten von Meditation und Gebet Unsterblichkeit zu erlangen. Die Einzelheiten der Praktiken waren für jeden verfügbar, der die entsprechende Literatur von der Gruppe bestellte. Ich schrieb einen Brief an die Email-Adresse, wobei ich nicht wirklich mit einer Antwort rechnete:

 

Wings,

            Deine Eltern machen sich Sorgen um dich. Ich nicht. Jeder Versuch von mir in der Vergangenheit, zu dir durchzudringen, war, als würde ich mit dem Kopf gegen eine Ziegelmauer laufen, in der Hoffnung, zur anderen Seite durchzukommen. Ich bezweifle, dass dieser neueste Versuch etwas anderes einbringen wird als eine Kopfverletzung.

            Doug

 

Nichtsdestoweniger kam eine Antwort, schon am nächsten Tag:

Doug, du bist besorgt und verängstigt. Das ist verständlich, denn du hast das Leben immer so geliebt wie ein Hund sein Halsband.

Du standest auf deinen kleinen Füßen und sammeltest Scheibchen der Unsterblichkeit, so, wie ein Bücherregal Staub ansammelt. So machen das die Menschen in Amerika.

Für mich, der ich das Joch, welches du verehrst, schon vor Jahren abgestreift habe, haben solche Überlegungen keinerlei Bedeutung. Ich habe auch ein anderes Kummet abgelegt, nämlich das jener Geschöpfe, die zufälligerweise meine Eltern waren.         

Weißt du, was es mit irdischen Jochs auf sich hat, Doug? Sie machen es dir unmöglich zu fliegen. Es gibt eine Galaxie, die sich hinter jedem Blinzeln, hinter jedem Händedruck, hinter jedem Stein und jeder Blume verbirgt, hinter dem schweren Atem des Lebens und den weißen Knochen des Todes. Die meisten Menschen sind heute blind für diese Galaxie. Die Kummets tun den Menschen etwas anderes an: Sie reißen ihnen die Augen aus dem Kopf.

Du willst dein Geld. Im Lichte der Tatsache, dass wir vor so langer Zeit Freunde waren, schlage ich vor, dass wir uns für kurze Zeit treffen. Ich werde morgen in deine Stadt kommen. In der Innenstadt, vor dem American-Hochhaus, ist ein Olivenhain. Zu dieser Zeit des Jahres tragen die Bäume keine Blätter. Triff mich unter diesen Bäumen, morgen Mittag, am Sonntag, dem Tag, an dem Gott schläft.

Falte deine Hände und bete,

Dein ältester Freund,

Adam

 

Mein Magen verkrampfte sich nervös. Zwei Stunden, nachdem ich diesen Nachricht gelesen hatte, konnte ich immer noch nicht aufhören, darüber nachzudenken. Es war, als würde jedes Wort nicht das bedeuten, was es eigentlich sagte, sondern eine Maske war, hinter der sich ein tieferer Sinn verbarg. Nachdem ich das Schreiben viele weitere Male gelesen hatte, konnte ich dennoch keine versteckten Botschaften darin entdecken, es sei denn, die Botschaft solle verkünden, dass Greeley verrückt geworden war.

Um zwei Uhr nachts warf ich mir den Bademantel über. Ich schaltete mein Emailprogramm ein und druckte Greeleys Nachricht aus. Ich las sie wieder und wieder. Um vier Uhr morgens stöhnte ich, warf den Brief auf den Fußboden, stieg darauf und ging wieder ins Bett.

Saubere, gerade Strahlen gelben Lichts schossen durch die Lamellen der Jalousie und verwandelten mein Zimmer in eine zitronengelbe Zelle.

Die Uhr über dem Kaffeetopf zeigte 10:00 Uhr. Ich saß am Küchen tisch. Ich rieb mir die Stirn. Meine Finger waren eiskalt. Ich blickte einmal mehr in Greeleys Brief. Mein Bleistift lag immer noch darauf, in derselben Position, wohin ich ihn vor zehn Minuten geworfen hatte, als ich den Brief in zwei Hälften zerschnitten hatte. Sollte ich hingehen? Ein Mann in Anzug und Krawatte, mit steifem roten Haar, das an der Seite gescheitelt war, sprach aus dem Fernseher. Ein Mann mit beginnender Glatze zappelte neben ihm. Um seinen Nacken trug er einen dicken, weißen Stützverband. Der Rothaarige lächelte. „Wurden Sie bei einem Unfall verletzt?“

            Der Rasen vor dem American-Hochhaus war braun, mit Büscheln welken Grüns, wie die Oberfläche einer verfallenen Mauer, die von Flechten überwuchert wurde. Neue Grashalme krochen in zögernden Bündeln aus der Erde.

            Menschen huschten um mich herum. Tausende Schuhe klapperten dumpf auf dem Pflaster. Ich sah mich aufmerksam nach Greeley um. Wie würde er aussehen? Würde er eine Glatze haben, wie ich? Fett sein? In meiner Vorstellung war Greeley ein tadelloser Bergmensch aus einem TV-Spielfilm, körperlich perfekt gesund, sein Geist verworren von einer verrückten religiösen Zurück-nach-Eden-Bewegung. Ich suchte die Menge ab nach jemandem mit Bart, langem Haar und einem Grinsen, das alle irdischen Sorgen transzendiert hatte.

            Meine Uhr zeigte 12:00 Uhr. Die Menge wogte weiterhin vor und zurück. Tausend Gesichter vermieden einander. Dann wurden ein paar langsamer und drehten ihr Gesicht nach oben. Eine Frau mit ordentlichem braunen Haar und grünem Business-Kostüm blieb stehen, den Kopf geneigt, die Augen weit aufgerissen. Sie zog einen kleinen Jungen nahe an sich. Der Junge deutete nach oben und schrie. Schreien, dann Schreie, und ich folgte ihren Blicken nach oben, wo die glatte Silberfläche des American-Hochhauses den blauen Himmel durchschnitt. Das hohe Kreischen einer Maschine fiel sanft herab.

            Das Flugzeug traf das Gebäude in einem Winkel und brach auf der anderen Seite durch, im blendenden Finger einer Flamme. Der Gehweg machte einen Ruck, wie ein Teppich, der nach unten hin weggezogen wird. Ich kollabierte. Ein Schatten bewegte sich über die Erde.

Vielleicht war es, weil für mich alles auf dem Kopf stand, oder vielleicht war ich verwirrt, weil mein Kopf gegen den Asphalt knallte, aber als ich in das knurrende Maul aus pulverisiertem Stein sah, das auf mich zu herunter raste, dachte ich, ich sähe eine Hand.

John Eidswick ist unter der Emailadresse fuji3@mb1.kisweb.ne.jp erreichbar.

 Aus dem Englischen von Britta Greier-Greiner (www.greier-greiner.at)